[ Texte ] |
"Saxophon" "Ed Bickert
& Jim Hall"
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Und
der Schlagzeugler wackelt mit dem Kopf...
von Werner Fischer
"Immerhin, das Bankett des in tiefstes Trauerschwarz gehüllten Carnevalsvereins, der im Glarnerhofsaal sich mit russischen Eiern und Hühnerbeinen auf die kommenden Strapazen stärkte, war tatsächlich feierlich. Später wurde es weniger. Von dem Moment an nämlich, wo die roten Hallen, die die Herren Kunstmaler Kradolfer und Eberhard mit grotesken Figuren belebt hatten, die bunt frohbewegte Maskenschar einzog, die die schwarzen Herren beim Wickel nahm und zum Klang der Leier - die eigentlich eine flotte Musikkapelle war - in sämtlichen europäischen und amerikanischen Taktarten übers Parkett drehte."
Glücklicherweise befindet sich unter den Gästen des vom Carnevalsverein organisierten Maskenballs im Hotel Glarnerhof ein Korrespondent der Glarner Nachrichten, der das närrische Treiben in der Nacht vom zweiten auf den dritten März 1930 für uns festgehalten hat. Sein ausführlicher, von der beissenden Ironie des Bildungsbürgers durchsetzter Bericht lässt uns nicht nur in das damalige fastnächtliche Geschehen eintauchen. Er enthält auch eine detaillierte Beschreibung des für diesen Anlass engagierten 'rassigen Jazzband-Orchesters': "Während Klavier, Geigen, Saxophon sich mit Melodien abmühen, der Schlagzeugler mit dem Kopf wackelt - Mozart hätte es auch getan, wenn er da gewesen wäre - währenddessen also begann jenes uralte Bewegungsspiel zu Zweien."
Bei der namentlich nicht genannten Kapelle haben wir es mit einer aus Saxophon, mehreren Geigen, Klavier und Schlagzeug - dem Jazz - bestehenden Formation zu tun. Von dem am selben Abend im Nachbarsdorf Netstal (Schwert) spielenden fünfköpfigen 'Jazzband-Orchester Minerva' ist folgende Formation überliefert: Saxophon, Violine, Posaune, Klavier und Schlagzeug, wobei der Saxophonist auch bisweilen zur Klarinette, der Geiger zur Trompete und der Posaunist zur Handorgel greift. Beide Formationen zeichnen sich durch das für die Frühzeit der modernen Tanzmusik typische Nebeneinander von Streich- und Blasinstrumenten aus, unterstützt von Klavier und Schlagzeug. Ein Kontrabass oder ein tiefes Blasinstrument fehlen. Wir befinden uns sozusagen am Anfang der vom 'Jazz' ausgehenden völligen Umstrukturierung des Tanzorchesters, die nicht nur den Einbezug des Schlagzeugs bedeutet, sondern auch die sukzessive Ablösung der Streich- durch Blasinstrumente, insbesondere das Verdrängen der bisherigen Hauptträgerin der Melodie, der Geige, durch ein Instrument, das vorher fast unbekannt war: das Saxophon.
Während im Glarnerland die ersten Vorboten der 'Jazz-Manie' in die Jahre 1924 und 1925 fallen, können die Jahre zwischen 1928 und 1935 als eigentliches 'Jazz-Age' bezeichnet werden - ein 'Jazz-Age' allerdings von geringer Intensität im Vergleich mit den städtischen Ballungszentren der Schweiz. Immerhin werden in den Jahren um 1930 für die grossen Tanzveranstaltungen nach dem Neujahr, die Maskenbälle der Fastnacht und in kleinerem Rahmen auch für verschiedene Kilbenen vorwiegend 'Jazz'-Orchester engagiert.
Aufs Musikalische reduziert lässt sich der 'Jazz' dieser Orchester am ehesten als ab Noten gespielte leichte Unterhaltungsmusik bezeichnen, in der weder Improvisation noch eine individualistische Tongebung von Bedeutung sind. Es dominieren eingängige Melodien, unterlegt mit leicht tanzbaren, klaren Rhythmen. Sogar die 'jazzigsten' der zahleichen deutschen Tanzkapellen, die auf Schallplatten in der Deutschschweiz gehört werden und möglicherweise auch der im Glarnerhof spielenden Formation Vorbild stehen, sind nach heutigen Begriffen keine Jazzorchester. Sie unterscheiden sich aber von der traditionellen Unterhaltungsmusik durch ihre Instrumentierung und die rhythmische Konzeption.
Der weitere Bericht
unseres Gewährsmanns der Glarner Nachrichten macht deutlich, dass sich
auch das Repertoire der "in sämtlichen europäischen und amerikanischen
Taktarten" spielenden Musikkapelle am Fastnachtsball 1930 zu einem beträchtlichen
Teil aus den beliebten, über die neuen Medien Film, Schallplatte und Radio
verbreiteten, zeitgenössischen deutschen Schlagern zusammen setzt:
"Die Musik behauptet noch viel merkürdigere Dinge, man kann nur staunen,
mit welcher Vehemenz sie ganze Romane fabriziert. Beweis? Höchst einfach:
Sie behauptet, wir seien in einer kleinen Konditorei! ferner: "Ich weiss
schon längst, dass du mich heimlich lieb hast!" - ferner: "Ich
hab dein Bild im Film gesehen!" und "Du hast mir den Kopf verdreht!"
Sie erklärt mit schöner Offenheit: "Du bist die Frau, die die
Sünde erfand!" und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen: "Nie,
schöne Frau, vergess ich dich!" ... Dass man "ins Paradies geschaut",
mag bei dem und jenem wahr sein, und das die "Dolly nun in Holliwood [sic!]
ist!" ebenfalls. Immerhin, es ist fabelhaft, welche Tiefen des Lebens die
Schlager zu beleuchten wissen; Beethoven hat das nicht gekonnt. Schade, er war
sonst kein übler Musiker."
Quellen
Glarner Nachrichten, 3.3.1930 (51), S. 3f. - Glarner Nachrichten von 1920 bis
1945. - Fremdenblatt für Glarnerland und Walensee von 1920 bis 1945.
Literatur
Eric Hobsbawm, The Jazz Scene, New York 1993. - Heinrich Baumgartner, "Jazz"
in Zürich um 1920, Zürich 1989.